TRForge Adventskalender

Mein Weihnachtsmärchen
oder: Der lange Weg zu ein paar schönen Stunden

von mercy

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"Okay, dann kaufe ich also die Tickets!", rief ich fröhlich in den Hörer des elterlichen Telefons. Unterschwellig keimte jedoch der Gedanke auf, wie ich Mama und Papa erklären sollte, dass ich Weihnachten und Silvester zum ersten Mal nicht zu Hause verbringen würde - und obendrein auch noch Geld für die Fahrkarten bräuchte...

So ein verdammter Stress!! Hätte ich das doch bloß geahnt! (Gut, das habe ich, doch wer gesteht sich schon gerne Fehler ein, wenn auch alle anderen Schuld sein könnten?) Mit einem Ersatz-T-Shirt zur Schule, nach Schulschluss und direkt vor den Weihnachtsferien auf dem stinkenden Schulklo umziehen und dann raus zum Auto, den Koffer holen. Der Bus fährt ja auch nur 5 Minuten nach Schulschluss. Mein Gott. Wer ist schon so dumm und fährt am letzten Schultag mit dem Bus - und zwei Tage vor Heiligabend mit der Deutschen Bahn?? Nun, offenbar so viele Menschen, dass der ICE bereits in Bremen hoffnungslos überfüllt und mit schwitzenden, plappernden und dank winterlicher Erkältung triefnasigen Menschen jedes Alters vollgestopft war.
Natürlich fällt immer ausgerechnet in diesen Situationen das Platz-Reservierungs-System aus, weshalb ich mir meinen immerhin bezahlten Sitzplatz gegen einen schnarchenden Herrn erkämpfen musste. Warum aber sind immer gerade die Personen auf MEINEM Sitzplatz immer so schwer wach zu kriegen?? Und warum sind sie so dick, dass sie beim Herauswuchten aus dem Sitz alle umstehenden Hindernisse - Menschen gleichermaßen wie Koffer und einen kläffenden Hund gleichermaßen wie eine nur wenig kleinere Handtasche - an die von kondensiertem Atem beschlagenen Fenster presste?? Und warum, warum nur haben sie so viel Gepäck dabei, dass selbst die Hilton Paris große Augen machen würde??
Etwa auf Höhe von Osnabrück (man fährt mit einem Schnellzug auch nur 45 Minuten bis dorthin!) konnte ich mich endlich in meinen nicht gerade gemütlichen, aber immerhin bezahlten, Sitz direkt neben der - weil von auf dem Gang sitzenden und stehenden Menschen und von liegenden Gepäckstücken offen gehaltenen - Tür Platz nehmen, bereit für 4 wundervolle Stunden Zugfahrt durch das weihnachtlich-regnerische Deutschland.

Als jugendlich-moderner Mensch kann man auf so einer Fahrt vor allem eines tun: Musik hören. Und genau das taten die im selben Großraumwagen Sitzenden. Als selbstlose Menschen, die sie nun einmal sind, ließen sie ihre werten Mitreisenden ohne Kostenbeteiligung in voller Lautstärke an dem Crescendo ihrer unterschiedlichen Geschmäcker teilhaben. Links vorne rappte Sido aus krächzenden Handylautsprechern Bruchstücke vom harten Leben in seinem Block, während die dumpfen Bässe aus den Kopfhörern des jungen Kerls vor mir mit dem scheppernden Metal aus den Kopfhörern des Punks auf dem Gang neben mir um Aufmerksamkeit kämpften. Wohl denen, die entweder durch forgeschrittenes Alter oder durch fortgeschrittenen Konsum lauter Musik taub geworden waren.
Zugegeben, mich kümmerte all das wenig. ICEs haben den entscheidenden Vorteil, dass in die Armlehnen Kopfhörerbuchsen eingelassen sind - für all die vielen Menschen, die sonst einfach nicht wüssten, was sie mit ihren losen Kopfhörern anfangen sollten. Die Senderauswahl im Armlehnenradio ist mit etwas Nachsicht betrachtet zwar bestenfalls semi-komfortabel, doch besser als zu Metalklängen "Hyper Hyper" shoutende Sidos ist sie allemal.

Bald schon lag ich - von 90er-Jahre-Songs getragen und umhüllt vom Geruch ausgepackter Lunchpakete und Glühwein trinkender Weißbärte mitte 60 (ob der Weihnachtsmann wohl Bahn fährt?) - in einem tiefen Schlummer. Vergessen die Sorgen, vergessen der Weihnachtsstress, vergessen die Menschen um mich herum, vergessen... "NÄCHSTER HALT: DORTMUND HAUPTBAHNHOF! SIE HABEN ÜBERGANG ZU..." Schön, wenn der Ohrenschmerz langsam nachlässt, nachdem man den Strecker aus der Buchse gezogen hat. Weniger schön jedoch, dass die Stimme damit noch immer nicht still ist. Dabei finde ich, dass Lautsprecher im Zug entschieden überbewertet werden!
So konnte man denn auch nicht umhin, sich als Weihnachtsgeschenk für den schlaff und müde klingenden Triebwagenfahrer neben einer großen Kanne Kaffe auch einen Nachhilfekurs in englischer Sprache zu wünschen. (Ob ich einem der weißbärtigen Herren einen Wunschzettel zustecken sollte?) Aus dem bestenfalls gestammelten "Tenk ju vor trewellink. Wi wisch ju aj märri Kristmäs. Gut bej." wurde jedenfalls nicht jeder englischsprachige Fahrgast schlau. So fragte doch kurz hinter Köln ein junger Herr im Anzug den vorbei eilenden Zugbegleiter, wann wir voraussichtlich Bochum erreichen würden. Die Fahrt schien ihm schon so lange zu dauern. Milde geschockt musste er sich dann erklären lassen, dass er seinen Zielbahnhof um eine Stunde verpasst hatte. Genauer gesagt: eine Stunde und 15 Minuten, denn so lange dauerte es, bis der junge Mann aus den englischen Bröckchen des Zugbegleiters schlau geworden war.
Wie diese Geschichte endete, habe ich nie erfahren, denn dankenswerterweise fand ich in den Tiefen meines Rucksacks noch eine neue Batterie, mit deren Hilfe sich zu Scooter, Aggro Berlin und Judas Priest nun auch meine Musik hinzu gesellen konnte. So von der Außenwelt abgeschirmt erreichte ich 90 Minuten später den Mainzer Bahnhof, mein Ziel. Juhu, endlich geschafft. Jetzt konnte Weihnachten kommen.

Mit geschätzten hundert anderen Personen quetschte ich mich auf die schmale Rolltreppe, den Koffer irgendwie hinter mir her ziehend, schleppend und tragend. Als wir dort so langsam nach oben fuhren, meinte ich, in meinem Kopf eine sphärische Filmmusik zu hören, wie aus den kitschigen Hollywoodfilmen, wenn sich ein Paar an Weihnachten am Bahnhof/Flughafen/etc. nach langer Zeit wiedertrifft. Dieser Augenblick, gefilmt aus der Sicht des/der Ankommenden. Die Rolltreppe, deren Stufen sich langsam oben einfahren. Die vielen Lichterketten, Kerzen und Leuchtsterne, die überall befestigt sind und langsam ins Bild kommen. Dann der Switch auf die Sicht des Wartenden. Der Kopf des/der Liebsten wird auf der Rolltreppe sichtbar, dann der ganze Körper. Ein kurzes orientierendes Umschauen von ihm/ihr, bis sich die Blicke treffen. Dann die Umarmung. Der Kuss.

Jaaa, ich gestehe - manchmal stehe ich auf Kitsch! Doch wenn nicht Weihnachten die richtige Zeit dafür ist, wann dann?? Und dieses Weihnachten versinnbildlichte für mich alles, was ich je mit Kitsch in Verbindung gebracht und bisher immer belächelt hatte.

Bei Chris zu Hause empfing uns der Duft von frischen Plätzchen und die herzliche Umarmung seiner Mutter. Die Zeit bis Weihnachten verging wie im Fluge. Ich durfte mit den kleinen Brüdern den Weihnachtsbaum schmücken und an Heiligabend fand ich mich wieder im Kindheitsritual meines Freundes. Die Rolläden waren heruntergelassen im Wohnzimmer. Das Licht gelöscht. Stühle versperrten die Tür. Die beiden Kleinen waren unglaublich aufgeregt und konnten kaum erwarten, bis die kleine Glocke läutete und die alte Schallplatte mit einer Aufnahme des Weihnachtskonzert des Onkels spielte.
Beim Blick in die Stube fand ich mich wie in einen Traum versetzt. Einen kitschig-stereotypen Traum von Weihnachten. Ich liebte es. Der Baum strahlte in seiner ganzen Pracht (hatte ich ihn wirklich so wundervoll geschmückt, oder war er genau so meinen romantischen Vorstellungen von Weihnachten entsprungen?), auf dem Boden lagen bergeweise Geschenke, Vater und Mutter standen mit glücklichem Blick nebeneinander und sahen ihren Kindern zu, wie sie sich mit glänzenden Augen auf die Geschenke warfen. Es duftete nach Kerzenwachs, frischen Tannenzweigen und Zimtsternen und in all dem hellen Glanz entdeckte ich sogar einen Stapel Geschenke für mich. Ohrenschützer, ein neues Buch und ein süßes Gedicht von meinem Freund.
Als ich mich umsah, war ich der glücklichste Mensch der Welt. Der Jüngste spielte mit seinem neuen Gameboyspiel, der Mittlere las eine Bedienungsanleitung für eines seiner Geschenke - und mein Freund grinste bis über beide Ohren, denn er hatte von mir den großen Teddybären bekommen, den er sich gewünscht hatte.

So plätscherte der Abend dahin, bis wir auf den Gedanken kamen, noch zur Mitternachtsmesse zu gehen. Kirche?? Das hatte ich zu Weihnachten schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Doch warum nicht? Heute war alles so stimmig, dass es irgendwie dazu gehört hätte.
Zu sechst machten wir uns auf den Weg durch das eisige Städchen zur Kirche. Und während Sterne und Weihnachtslichter den Raureif bedeckten Boden im Mondlicht zum Funkeln brachten, und ich Hand in Hand mit meinem Freund den wirbelnden Atemwolken zusah, wurde mir klar, dass dieses Weihnachtsfest perfekt war.